Akt der Befreiung und Fanal der Unfreiheit

Analyse

Der erfolgreiche Gefangenenaustausch sollte keinen Anlass für Illusionen geben: Er hilft auch Wladimir Putin, überdeckt die wachsenden Repressionen in Russland – und verlangt eine größere europäische Verantwortungsübernahme. 

Der Wall Street Journal-Reporter Evan Gershkovich (vorne), der in Russland beschuldigt wird, für die US-Regierung spioniert zu haben, und der deutsche Staatsbürger Rico Krieger (hinten), der in Weißrussland wegen seiner Tätigkeit für den ukrainischen Sicherheitsdienst (SBU) zum Tode verurteilt worden war, an Bord eines Flugzeugs vor dem Flug nach Ankara auf einem Flughafen in Moskau, Russland, zu sehen.
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Der Wall Street Journal-Reporter Evan Gershkovich (vorne), der in Russland beschuldigt wird, für die US-Regierung spioniert zu haben, und der deutsche Staatsbürger Rico Krieger (hinten), der in Weißrussland wegen seiner Tätigkeit für den ukrainischen Sicherheitsdienst (SBU) zum Tode verurteilt worden war. Beide an Bord eines Flugzeugs vor dem Flug nach Ankara auf einem Flughafen in Moskau, Russland.

Die Freilassung der politischen Gefangenen am 1. August ist zunächst eine freudige Nachricht. 16 zu Unrecht Verurteilte kommen frei, von denen zum Teil zu befürchten war, dass sie den Kerker nicht überleben könnten: wegen ihres Alters und ihrer schwachen Gesundheit, der miserablen Haftbedingungen und der persönlichen Feindschaft, die Putin einigen der Verurteilten gegenüber hegt. Schließlich stand allen das Los des Oppositionsführers Alexey Navalnyj vor Augen, den Putins Schergen so lange in immer entlegenere Lager verschoben, um ihn aus der Öffentlichkeit zu verdrängen, bis er im Februar am Polarkreis starb. 

Die Regierungen in Berlin, Washington, Ankara, aber auch viele russische und internationale Menschenrechts-Aktivist:innen verbuchen den Gefangenenaustausch als Erfolg. Doch sollte er die Akteure in Deutschland und der internationalen Politik nicht dazu verleiten, die Lage in Russland und damit in Europa zu beschönigen oder nun Illusionen über bessere Beziehungen zu dem Kriegsregime zu hegen. 

Verbot russischer Gefangenenhilfsorganisation 

Gerade in den letzten Tagen sind die Repressionen in Russland erneut an vielen Stellen ausgeweitet worden. Am Tag der Freilassung der 16 wurde die renommierte russische Gefangenenhilfsorganisation „Rusj Sidjaschaja“ (dt: „Russland hinter Gittern“) als „unerwünscht“ im eigenen Land verboten. „Russland hinter Gittern“, geleitet von der nach Berlin emigrierten Journalistin Olga Romanova, verfügte in den meisten Regionen weiterhin über ein riesiges Netz von Freiwilligen, Anwälten und Informationsgebern, die auch in entfernten Winkeln Russlands Post, Essen und juristische Hilfe brachten – und die Umstände in den Haftanstalten draußen schilderten. Die schlechten Nachrichten von dort setzen sich unvermindert fort. So musste Olga Romanova am 2. August mittteilen, dass der Pianist Pavel Kushnir im ostsibirischen Birobidjan aufgrund eines Hungerstreiks in Haft gestorben ist – er war im Mai wegen eines Antikriegsvideos eingesperrt worden.

Einschränkungen auf Youtube

Direkt am Tag vor dem Gefangenenaustausch wurde die russische unabhängige Öffentlichkeit von der Nachricht aufgeschreckt, dass die Online-Plattform YouTube nun offiziell ausgebremst werden soll. Die Beschränkung oder gar Zwangsabschaltung von YouTube war schon seit langem befürchtet worden, weil Journalisten und Blogger, Antikriegs-Initiativen und andere Regimekritiker über diese Google-Plattform ihre größte Reichweite in Russland erzielen – viele im Millionenbereich. Genau am Tag des Gefangenenaustauschs wurde die YouTube-Geschwindigkeit dann tatsächlich für alle Desktop-PCs gedrosselt, am stärksten in Moskau und Petersburg, wo die meisten Regimegegner leben. 

Russische Zivilgesellschaft zur Verfolgung freigegeben

Erst am 26. Juli hatte das Moskauer Justizministerium aufgrund eines Beschlusses des Obersten Gerichts praktisch einen ganzen Teilbereich der Zivilgesellschaft in Russland als extremistisch aufgelistet und zur Verfolgung freigegeben: In dem Verzeichnis einer angeblichen „antirussischen separatistischen Bewegung“ stehen fast alle dekoloniale Initiativen und Organisationen indigener Bevölkerungsgruppen, von denen es jetzt im Land und im Exil Dutzende, womöglich Hunderte gibt. Denn angesichts des imperialistischen Krieges Russlands gegen die Ukraine ist das Bewusstsein dafür stärker geworden, dass eine künftige Gesellschaft in Russland nicht nur föderativer sein muss, sondern sie auch ihre jahrhundertelange Kolonialgeschichte und -praxis aufzuarbeiten hat: bezüglich der ethnisch so verschieden geprägten Regionen im Land selbst wie auch mit Blick auf alle Nachbarn, die immer wieder Ziel kolonialer Eroberungszüge aus Moskau waren.

Für die Sache der Freiheit bleibt der 1. August deshalb ein ambivalenter Tag. 

Putin profitiert gleich mehrfach von dem Deal: 

Erstens gelang es ihm, die demokratischen Länder dazu zu zwingen, Unschuldige zu tauschen gegen erwiesene Verbrecher, darunter den staatlichen Auftragsmörder Vadim Krasikov. Dies wird dazu führen, dass Putin künftig noch unverfrorener und leichter Mord- und Diversionsaufträge vergeben kann – denn Putin hat mit der nachdrücklichen Verfolgung der Austausch-Aktion, aber auch dem persönlichen Auftritt bei Ankunft der Delinquenten in Moskau sein unbedingtes Einstehen für die eigenen Verbrecher demonstriert.

Zweitens haben Putin und seine Handlanger den Kreis und die Anzahl der Häftlinge, die in den „westlichen“ Ländern als Wechselgut zählen würden, gezielt erhöht. Er hat damit einen Handel re-etabliert, wie er nun wohl wieder häufiger zu sehen sein wird. 

Zu Recht erinnerten Kommentatoren daran, dies sei der größte Gefangenenaustausch seit dem Kalten Krieg: Denn auch damals wurden Dissidenten gegen Mörder, Spione, Devisen und Straßenbauten eingetauscht, und auch damals wirkte es, als ob die Generalsekretäre im Ostblock sich ständig neue Gefangene zulegten, um weitere Händel stiften zu können. Genauso zynisch agiert auch der vom Kalten Krieg geprägte Putin. Dabei wurden die aus russischer Haft Befreiten vorher nicht befragt, ob sie eigentlich ins Ausland ausgetauscht werden wollen. Einige von ihnen haben inzwischen erklärt, dass sie den Widerstand so bald wie möglich im Lande selbst fortsetzen wollten, notfalls halt in Haft – etwa Ilja Jaschin, der weiß, dass von solcher Präsenz im Land viel für seine Legitimität als Politiker abhängt, und Wladimir Kara-Murza, der sein Verfassungsrecht auf ein Leben im Heimatland verteidigt. Auch Oleg Orlov von Memorial hatte mehrfach erklärt, Russland nicht verlassen zu wollen. Für sie bleibt es essentiell, sich nicht zu Verschiebematerial des Diktators zu machen – und so betonten alle drei auch, Gnadengesuche an Putin verweigert zu haben, und dass andere dringender hätten entlassen werden müssen: etwa der Moskauer Bezirksabgeordnete Aleksey Gorinov und der Kaliningrader Aktivist Igor Baryshnikov, beide schwer krank, oder Daniil Kholodnjy, der frühere Direktor von Navalnyjs Youtube-Kanälen.

Putin indes hat, drittens mit der Freilassung dieser Flüchtlinge jedoch auch internationalen Druck auf sich vermindert. Sie waren seine prominesten Gefangenen: Politiker verwiesen auf sie, Journalist:innen kannten und befragen sie, weltweit trafen sich Gruppen zu Solidaritätsprotesten und Briefe-Abenden für sie. Mit ihrer Freilassung ist ein Anlass internationalen Engagements für die russische Opposition entfallen – für das Regime eine bequeme Situation. Zwar sitzen auch jetzt noch einige Prominente in Haft, wie die Antikriegs-Dichterin und Theaterregisseurin Jewgenia Berkowitsch und ihre Autorin Swetlana Petrijtschuk, wie der Leiter der Wahlbeobachtungsvereinigung Golos, Grigory Melkonyants. Doch spezialisierte NGOs und Medien wie OVD-info , das Memorial-Programm für Politische Häftlinge in Vilnius und Zona.media verzeichnen mindestens 700 weitere Insassen, die aufgrund politischer Anschuldigungen verurteilt wurden – und täglich kommen neue hinzu. Wer wird sich um sie kümmern? Es gehört zu den Aufgaben der nächsten Monate, all diese Gefangenen – und ebenso ihre über 1.000 Schicksalsgefährten in Belarus, die diesmal überhaupt nicht berücksichtigt wurden – nicht aufzugeben. 

Risiko für Vertreter:innen der russischen Zivilgesellschaft bleibt

Ob die nun befreiten Leitgestalten der Opposition und Zivilgesellschaft, von denen etliche in Deutschland bleiben werden, in der zersplitterten kritischen Exilgemeinschaft aus Russland eine konsolidierende Rolle spielen können, wird sich erst in einigen Monaten zeigen. Das Potential dafür besteht zumindest bei Wladimir Kara-Murza und Ilja Jaschin. Doch nach dem Tod von Alexey Navalnyj hatten die internen Konflikte in der Opposition nur noch zugenommen – und die ohnehin geringe Wirksamkeit aus dem Ausland ist weiter geschrumpft. So ist auch ihre Forderung, nur Einzelsanktionen gegen Täter des Regimes zu erlassen und die gegen das Land als Ganzes aufzuheben, auch von dem bisher weitgehend vergeblichen Versuch geleitet, in der russischen Mehrheitsgesellschaft stärkeren Rückhalt und Anhänger zu finden. 

Das Risiko für Vertreter:innen der russischen Zivilgesellschaft, aber auch für Bürger:innen aus der EU, den USA, Großbritannien oder Kanada, eine der nächsten Geiseln von Putin zu werden, wächst jetzt rapide. Die potentielle Erpressbarkeit dürfte bald auch weitere Vorsichtsmaßnahmen im Ausland auslösen, wie den Rückruf von Journalist:innen. Auch das hilft Putin – es dringen dann weniger realitätsnahe Informationen aus seinem autoritären Reich nach außen. Selbst die eben Freigelassenen sind auch weiterhin nicht in Sicherheit – der frühere russische Präsident Medvedev hat ihnen bereits mit neuen Attentaten gedroht.

Putin als Gewaltherrscher

Für die Bundesregierung und besonders Kanzler Olaf Scholz war der gelungene Gefangenenaustausch gewiss ein vor den Landtagswahlen in Ostdeutschland wichtiger Öffentlichkeitserfolg. Sie können nun den populistischen Forderungen von AfD und BSW, aber auch etlicher Sozialdemokraten, nach „Verhandlungen mit Russland“ ein konkretes Ergebnis monatelanger Diplomatie entgegenstellen. Gestärkt wurde auch das Modell der Pendeldiplomatie des türkischen Präsidenten Erdogan als Vermittler – der damit weiter keinen Anlass hat, die Seite des „Westens“ zu stärken. Der Vorgang beweist letztlich, dass Putin als Gewaltherrscher weiter über die Eskalations-Dominanz verfügt – sei es an den Fronten in der Ukraine oder auf den Feldern von Diversion und Cyberkriminalität –, denn er wird von keinem Parlament und keiner kritischen Öffentlichkeit, keinem Rechtsstaat im Zaum gehalten. 

Putins langfristige Ziele haben sich um kein Jota geändert. Zu ihnen gehört weiter die Unterordnung der Ukraine und aller weiteren Nachbarn, die er zu „russischem Einflussgebiet“ zählt. Zu ihnen gehört weiter die grundsätzliche Rache an und Unterminierung des von ihm so getauften „kollektiven Westens“, die Wiedererlangung eines imaginären Großmachtstatus auf Augenhöhe mit den USA, mit China, ggf. Indien und weiteren, denen er zugesteht, Pole seiner multipolaren Weltordnung der Ungleichen zu sein. Bisher kommt er damit langsam aber stetig voran: in der Ukraine, in Belarus, Georgien, Westafrika, selbst in der EU. Noch immer wird sich die kurz- und mittelfristige Durchsetzung seiner Ambitionen v. a. in der Ukraine entscheiden. 

Die Freilassung der 16 am 1. August ist daher auch ein Fanal gegen die von Putin und seinen Mittätern auf Dauer angelegte Unfreiheit der Menschen in Russland, Belarus, der Ukraine. Der Einsatz für die Freiheit dieser politischen Gefangenen muss einhergehen mit der Verantwortungsübernahme für die Wiedergewinnung der Freiheit auch in Russland und den anderen europäischen Ländern – durch prinzipielle demokratische Rechtspositionen im In- und Ausland, die Stärkung der Zivilgesellschaften und durch eigenes Engagement im internationalen Verbund.